Foto: Wolfgang Willner

Ich kann mich glücklich schätzen! In meinem Garten hüpft der „Vogel des Jahres 2021“ täglich herum und während ich diese Zeilen schreibe, weht sein Gesang aus dem Garten herein. Kaum ein anderes Lebewesen gibt uns solche Vorfreude auf den Frühling!

Zum zweiten Mal (erstmalig 1992) wurde das Rotkehlchen zum Vogel des Jahres gewählt – und zwar im 50. Jahr zum ersten Mal nicht nur von den Vogelschutzverbänden, sondern öffentlich. Es hat mit 59.267 Stimmen vor Rauchschwalbe und Kiebitz das Rennen um den Titel gewonnen. Dennoch freuen sich über den Siegervogel vermutlich auch alle der über 455.000 Menschen, die für einen der insgesamt 306 weiteren Kandidaten, darunter sogar die Stadttaube, gestimmt hatten.

Das Rotkehlchen als „Lieblingsvogel“? Die etwas pummelige Gestalt, das niedliche Gesicht mit den großen dunkelbraunen Augen und die hübsche Färbung (Rot zieht immer!) sind sicherlich wichtige Gründe dafür. Konrad Lorenz, der „Vater“ der Verhaltensforschung, hat angesichts des Rotkehlchens den Begriff „Kindchenschema“ gebildet. Wahrscheinlich spielt auch eine Rolle, dass das Rotkehlchen oft sehr zutraulich ist und somit gut beobachtet werden kann. Viele Gartenbesitzer können davon berichten, dass sie schon einmal beim Umgraben von einem Rotkehlchen besucht worden sind, das ihnen schier auf den Spaten gehüpft ist. Wer sonst außer uns kann ihm hier die etwas tiefer gelegenen Bodenschichten erschließen? Wir übernehmen dabei die Rolle eines Wildschweins, das im Boden wühlt und dem Rotkehlchen zu leichter Beute verhilft. Sie suchen einen überwiegenden Teil ihrer Nahrung – Insekten, Spinnen, Asseln, Schnecken, Würmer – am Boden und umgegrabene Erde zieht sie magisch an. Auch beim herbstlichen Laubrechen ist es ein „zuverlässiger Mitarbeiter“ und im Winter ein gern gesehener Gast am Futterhäuschen. Seine kräftigen Scharrfüße weisen darauf hin, dass die Nahrung ähnlich wie bei den Drosseln auf dem Boden, meist in der Laubstreu gesucht wird. Große Augen weisen auf die ausgeprägte Dämmerungsaktivität hin. Die insgesamt graubraune Grundfärbung tarnt den Vogel hervorragend vor seinen Verfolgern. Zusammen mit seinen nahen Verwandten Nachtigall und Blaukehlchen wird unser Vogel zu den „Erdsängern“ gerechnet.

Der lieblich-schöne, perlende, aber auch ein wenig wehmütige Gesang rundet das Bild ab. Das Rotkehlchen ist einer der wenigen Vögel, die ihren Gesang auch mitten im Winter vortragen. Es ist wunderschön und unvergesslich, wenn im sonst stillen winterlichen Wald ein einsames Rotkehlchen den Zauber der Landschaft verstärkt. Schon oft habe ich bei Frühjahrsexkursionen in der Morgendämmerung meine TeilnehmerInnen ausrufen hören „Ach, wie süß!“ Lassen wir uns aber von seiner lieblichen Stimme nicht täuschen – das Rotkehlchen ist als aggressiver Kämpfer bekannt. Das wussten bereits die Menschen der Antike und der wissenschaftliche Name Erithacus bedeutet „der Streitsüchtige“. Rotkehlchen gehören zu den heimischen Vogelarten, die auch im Winter ein Territorium besetzen und selbst zu dieser Zeit durch vehemente Verfolgungsjagden auffallen – das ist der Grund für den „Sänger an Wintertagen“. Noch ungewöhnlicher ist, dass auch die Weibchen eigene Winterreviere besetzen und singen. Da sie das jedoch selbst während der Brutzeit immer wieder tun, erschweren sie den Wissenschaftlern bei Bestandsaufnahmen die Zählung der Reviere.

Rotkehlchen sind Teilzieher. Die nördlichen Breiten und die Höhenlagen werden bei Wintereinbruch vollständig geräumt. In Mitteleuropa kommt es zu einem Austausch. „Unsere“ Rotkehlchen verabschieden sich zum größten Teil Richtung Südwesten (Iberische Halbinsel und Nordwestafrika) und werden durch Rotkehlchen aus dem Norden ersetzt. Da sich die Individuen meist gleichen wie ein Ei dem anderen, allen aber die geringe Scheu vor großen Tieren, also auch dem Menschen angeboren ist, fällt uns dieser ständige Wechsel gar nicht auf. Das vertraute Tier am heimischen Komposthaufen kann also jeden Morgen ein anderes sein, das uns treuherzig anblickt und sein nervöses „Schnickern“, seinen Alarmruf bei Bodenfeinden hören lässt. Das Rotkehlchen ist ein Insektenfresser, „aber sobald es Beeren gibt, sucht es nebenbei auch diese auf, ja sie werden im Herbst endlich seine Hauptnahrung.“ Als besonders beliebt schildert Johann Friedrich Naumann 1822 die Kerne des Pfaffenhütchens. „Sie fressen diese letzteren ungemein gern, und deswegen heißen diese lieblich gebildeten Früchte in hiesiger Gegend allgemein: Rotkehlchenbrot.“

Der liebste Aufenthaltsort ist die Bodennähe und als häufige Bodenbrüter in Mulden, unter Grasbüscheln, Laub, Wurzeln und Reisig werden sie leicht Opfer freilaufender Hauskatzen – allein dies muss Grund genug für die Katzenbesitzer sein, ihre Lieblinge in der Vogelbrutzeit im Haus zu belassen. Die beiden Nester, die alljährlich gebaut werden, kann man vom Boden bis in Höhen von zehn Meter finden, im Siedlungsbereich sehr oft an vielen außergewöhnlichen Standorten, wie einem vergessenen Adventskranz an der Haustür, in liegengebliebenen Gießkannen, Blumentöpfen oder auch in Nistkästen.

Das Rotkehlchen ist in der Bevölkerung nicht nur beliebt, sondern in der Regel auch bekannt. In der bekannten BISA-Studie zur Artenkenntnis unter Schülerinnen und Schülern belegte das Rotkehlchen immerhin den zweiten Platz – nach der Amsel. Somit ist es Vizemeister der bekannten Vögel. Etwa 70 % der befragten Jugendlichen konnten diesen kleinen Singvogel einwandfrei erkennen – immerhin! Das ist doch schon mal was. Und bei Studierenden an einer pädagogischen Hochschule waren es sogar 86,4 %, was auch den zweiten Platz bedeutete.

Das Rotkehlchen lebt in allen möglichen Habitaten, die einen etwas höheren Baumbestand mit Unterholz haben. Vom Gebirgswald bis zur städtischen Grünfläche ist fast alles dabei. Es bevorzugt reich strukturierte, extensiv bewirtschaftete Laubholz- oder Mischwald-Alterswälder mit feuchtem Bereich, kommt aber auch im Fichtenforst vor. Ein Bach oder kleines Stillgewässer ist sehr willkommen, da es durchaus auch auf die Jagd nach kleinen Fischen geht – in meinem Vortrag über „Wintervögel“ zeige ich ein Foto eines Rotkehlchens mit einem Fischchen im Schnabel am Eisrand eines Teiches. Beliebt sind auch große Parks und Friedhöfe. In der offenen Landschaft mit Hecken kommt das Rotkehlchen – wenn überhaupt – nur in geringen Dichten vor. Innenstädte ohne Grün werden gemieden. Rotkehlchen-Lebensraum ist also eher ein Friedhof mit alten Bäumen als die streng gepflegte Schrebergartenanlage, die strikt gemieden wird. Leider fehlt aus diesem Grund unser Jahresvogel auch in vielen Grünwalder Gärten – mangels Verstecken im Unterholz. Ausgeräumte Gärten waren mit ein Kriterium, weshalb die Wahl auf das Rotkehlchen fiel.

Auch wenn zur Brutzeit sein Gesang ein regelmäßiger Begleiter in den entsprechenden Lebensräumen ist, so ist es oft gar nicht so einfach, den Sänger in der Kulisse zu entdecken. Er tut uns nämlich nicht den Gefallen, wie eine Singdrossel oder Heckenbraunelle von der Spitze einer Fichte oder eines anderen Gehölzes zu singen. Meistens trägt er seinen relativ lauten Gesang aus halber oder sogar recht niedriger Höhe aus dem Gestrüpp vor. Er sitzt meistens zwar schon ein bisschen exponiert, aber er kann einfach überall sitzen und man hat schlicht keinen Anhaltspunkt zum Suchen. Wenigstens ist er so freundlich und bleibt oft lange an einer Stelle, sodass man dann doch eine Chance hat, den hübschen Sänger zu finden.

Bleib uns treu, bezauberndes Rotkehlchen, damit wir immer wieder ausrufen können „Ach, wie süß!“

Manfred Siering